Der Autor dieses sehr schönen Buches, ein in München wohnhafter Deutschschweizer, ist zugleich Redakteur der Internetseite www.bildimpuls.de, einer der interessantesten Websites im Beziehungsfeld zwischen Christentum und zeitgenössischer Kunst. Das vorliegende Buch ist in verschiedener Hinsicht beachtenswert : durch seine grafische und plastische Qualität (ansprechende Farbreproduktionen der präsentierten Werke), durch die originelle Idee und deren Umsetzung, durch die nüchternen und tiefsinnigen Kommentare. Patrik Scherrer legt einen „spirituellen Kommentar“ zu 33 zeitgenössischen Kunstwerken aus der Pinakothek der Moderne, dem herausragenden Museum für zeitgenössische Kunst in München vor. Nach seiner Überzeugung sind die Museen und insbesondere die Museen mit moderner Kunst die neuen Kathedralen unserer Zeit. Die Werke sind zum Anschauen ausgestellt, regen aber auch zur Meditation an. Die in diesem Band vorgestellten und beschriebenen Werke stammen von den größten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um Künstler vom Anfang des 20. Jahrhunderts wie Picasso, Kandinsky, Marc, Kirchner, Beckmann, Klee, Nolde, Schiele, Saura, aber auch vom Ende des letzten Jahrhunderts wie Warhol, Chillida, Baselitz, Metzel, Beuys, Fontana, Nitsch, Rainer, Tapies. Einige von ihnen sind noch am Leben.
Der Autor gibt einen Kommentar an die Hand, der uns das Werk betrachten lehrt. Er lässt uns die Schönheit und die verborgene Tiefe in den manchmal überraschenden Schöpfungen entdecken. Aber er gibt sich nicht damit zufrieden, nur unseren Blick zu schärfen. Er sucht in diesen Werken „Spuren von Gott“, wobei Gott weniger im Kunstwerk selbst begegnet als im Blick, mit dem man sie anschaut. So geht es weniger darum, „Gott zu sehen“, als vielmehr für Gott aufmerksam zu sein, der sich im Kunstwerk zu sehen gibt, wenn man auch nur ansatzweise die Spuren seiner Gegenwart sucht. Wenn diese Werke einen Zugang zu Gott erlauben, so kann dies nur durch das Mittel Seines Wortes sein, denn darauf verweisen sie indirekt. Die Gedanken Scherrers schlagen folglich einen diskreten, aber kontinuierlichen Bogen zwischen der künstlerischen und der biblischen Betrachtung. Die Bibel ist das einzige Gegenüber, das er für seine künstlerischen Kommentare heranzieht.
Handelt es sich um Kunstwerke mit biblischen Themen ? Meistens nicht, und hier ist das Vorgehen des Autors innovativ und interessant. Es geht von der Voraussetzung aus, dass es „Spirituelles in der Kunst“ selbst gibt, und ohne Zweifel vor allem dann, wenn das Werk kein religiöses Thema hat und nicht im kirchlichen Kontext geschaffen worden ist. Denn auch wenn sehr wenige zeitgenössische Kunstwerke explizit religiös sind, sind es viele implizit durch die Kreativität und die Kühnheit des bearbeiteten Sujets, durch die Dichte des verarbeiteten Materials, durch das aufrichtige Vorgehen, durch den radikalen Ausdruck. Manchmal taucht die christliche Thematik in der Tat auf, wird fast explizit wie in den Werken von Rainer, Saura, Chillida, Marc und anderen mehr. Doch auch dann, wenn sie implizit bleibt, arbeitet der Autor sie heraus. Wohl liegt in dieser Art von Interpretation eine gewisse Subjektivität, aber sie ist in dem Maße erlaubt, wie sie die eigentliche ästhetische Qualität des besprochenen Werkes und das Vorgehen des Künstlers zu würdigen weiß. Das Buch ist in vier thematische Teile gegliedert, die ebenfalls dazu dienen könnten, die in der zeitgenössischen Kunst verhandelten Themen hervorzuheben : „Spuren“, „Grenzerfahrungen“, „Leid und Tod“, „Visionen“. Diese künstlerischen Zusammenhänge lassen sich, wie es der Autor vorschlägt, auch auf andere Art und Weise, nämlich theologisch und biblisch deklinieren. Ein sehr lesenswertes Buch, das man gerne in französischer Übersetzung vor sich hätte.
Jérôme Cottin